Über das Projekt
In der frühen römischen Kaiserzeit wird die Philosophie zunehmend als τέχνη περὶ βίον/ars vitae, als «Lebenskunst» verstanden: Was ist wahres Leben und wie gelangt man dazu? Wer kann dieses «Know-how» vermitteln? Und – last but not least – worin gründet das Leben?
Es kommt noch hinzu, dass die Linie zwischen «Philosophie» und «Religion» in dieser Epoche nicht so trennscharf ist, wie man oft annimmt: Es findet sich in der Philosophie viel «Religiöses» sowie umgekehrt viel «Philosophisches» in der Religion. Von daher dürfte es niemanden wundern, dass die neutestamentlichen Evangelien gerade im Hinblick auf die Lebensthematik am philosophischen Diskurs ihrer Zeit teilnehmen. Jesus wird gefragt «Guter Lehrer, was muss ich tun, damit ich ewiges Leben erbe?» (Mk 10,17 [vgl. Mt 19,16; Lk 18,18]) und laut dem vierten Evangelium behauptet Jesus sogar, selbst das Leben zu sein (Joh 14,6). Das Ganze findet seine theologische Fundierung darin, dass Jesus den Gott Israels nicht als «ein Gott der Toten, sondern der Lebendigen» vorstellt (Mk 12,27 [vgl. Mt 22,32; Lk 20,38]).
Die Evangelisten gehen also auf die Lebensthematik anhand einer exemplarischen Einzelfigur ein. Drehen wir aber jetzt den Spiess um: Sind die Evangelien in dieser Hinsicht «Einzelgänger» in der Literatur ihrer Zeit? Der Philosoph und Apollonpriester Plutarch von Chaironeia hat ja nicht nur «ethisch-moralische» Traktate verfasst, wo es u.a. um das gelingende Leben geht (z. B. Non posse suaviter vivi secundum Epicurum), sondern auch «Lebensbilder» berühmter Griechen und Römer. Auch im jüdischen Hellenismus wird anhand der Schilderungen exemplarischer Individuen philosophiert, nämlich in den Schriften des Philon von Alexandria zu den Patriarchen Israels. Was trägt denn die Beobachtung zum Umgang der Evangelisten mit der Lebensthematik für die Analyse der plutarchischen und philonischen «Lebensbilder» aus? Werden auch sie dazu eingesetzt, die vielfältigen Fragen rund um das Leben durchzudenken und vielleicht sogar die Leserschaft zum Leben hinzuführen?
Wird dieses Anliegen in einem ersten Schritt geklärt, wird dann im zweiten Schritt gefragt, inwieweit die «Lebensbilder» dieser drei corpora als Mittel der indirekten Polemik fungieren. Es wird in der Forschung weitgehend anerkannt, dass die Evangelien ihre Adressaten auch daraufhin ansprechen wollten, wie sie mit konkurrierenden religiösen Entwürfen umzugehen haben. Die Darstellung Jesu als neuen Moses, die Auseinandersetzung mit den Pharisäern und das Gesetzesverständnis im Matthäusevangelium, z. B., ergeben Sinn vor der Annahme, dass der Evangelist gegenüber Konkurrenzangeboten einige brennende religiöse Fragen für seine Gemeinde klären wollte. Können Philons Patriarchenviten auch in diesem Sinne gelesen werden, nämlich als Mittel in der Auseinandersetzung mit anderen Kreisen der jüdischen Gemeinschaft in Alexandria? Und ist es sinnvoll, Plutarchs Parallelviten als Fortsetzung seiner Auseinandersetzung mit Stoikern, Epikureern oder auch zeitgenössischen Herrschaftsbildern zu lesen?